Als Vater durfte ich am 1. Juli 2022 die Rede zum Abschluss der Waldorfschule in Ostholstein halten. Hier ist eine leicht an die Öffentlichkeit angepasste Version (zum Schutz der Persönlichkeit lebender Personen) mit dem gleichen Inhalt nachzulesen, die um ein paar Links ergänzt wurde.
Ich weiß, dass ich nicht(s) weiß
Wir wissen nicht, ob Sokrates das wirklich gesagt hat. Niemand von uns hat ihn persönlich gekannt. Ich habe nicht die Übersetzung aus dem Altgriechischen ins Hochdeutsche auf Korrektheit überprüft. Ich habe weiterhin nicht überprüft, ob Sokrates Dinge gesagt haben könnte, die, auch wenn nur im Zusammenhang der Gegenwart, garnicht gingen. Wenn dem so wäre, müsste ich Sokrates insgesamt aus meinen Gedanken streichen. Ich müsste, dem Zeitgeist folgend, nicht nur Sokrates insgesamt canceln sondern auch alle Menschen, die in den letzten 2500 Jahren jemals einer These von Sokrates zugestimmt haben oder dessen verdächtigt werden. Ich habe auch nicht überprüft, ob Sokrates mal von jemand zweifelhaftem zitiert wurde. Womöglich hätte Sokrates dann Applaus von der falschen Seite erhalten und wäre entsprechend zu dissen.
Käme Dir das etwas merkwürdig vor?
Keine Angst, ich möchte an dieser Stelle nicht über das bedauerlich populäre Thema Cancel Culture oder die Veränderungen der Presselandschaft sprechen, die bis in die Erziehungskunst reichen, dem hier sicherlich allen bekanntem Presseorgan der Waldorfpädagogik. Das soll hier nicht vertieft werden.
Wie komme ich denn auf den Zusammenhang?
Euch wird vielleicht bekannt sein, dass Sokrates, der große griechische Philosoph, den Quellen zufolge als „geistiger Brandstifter“ zum Tode verurteilt wurde. Vielleicht wurde er verurteilt, weil er zu viele Fragen gestellt hat? Wir könnten sagen, dass so etwas in unserer aufgeklärten Gesellschaft nicht mehr passieren wird. Ist das denn so? Ich lasse die Frage mal offen stehen.
Ich möchte meinen Worten an Euch, liebe Absolvent:innen, den Satz „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ mitgeben. Es geht, nach meiner Interpretation darum zu hinterfragen (als erstes sich selbst …) und sich nicht mit einfachen Antworten zufrieden zu geben. Das gilt heute so sehr wie zu Sokrates’ Lebzeiten. Sokrates hat nicht dazu aufgerufen, Erbsen zu zählen oder Besserwisser zu werden. Es ging ihm darum zu hinterfragen und grundsätzlich zu versuchen weiter zu schwimmen als bis zum Tellerrand. Du bist genau dafür hier an der Waldorfschule in Ostholstein ausgebildet worden. Du hast gelernt, den Dingen auf den Grund zu gehen. Du wirst verstehen, diese Kompetenz in Deinem weiteren Leben und Wirken sinnvoll einzusetzen.
Sei Dir darüber im klaren, dass es unbequem sein kann, gegen den Strom zu schwimmen. Einfacher ist es dem Zeitgeist zu folgen und sich mit den Informationen aus der Tagesschau zufrieden zu geben. Doch entscheidende Entwicklungen sind noch nie in der Geschichte der Menschheit von Mitläufern initiiert worden. Deshalb möchte ich Dich bitten: glaube wenig, hinterfrage alles und denke selbst. Bei allen Entwicklungen, die die Gesellschaft verändern gilt: wer schweigt stimmt zu.
Zum Abschluss der Waldorfschulzeit gratuliere ich Euch, sicherlich auch im Namen der gesamtem Schulgemeinschaft herzlich.
Einige von Euch haben im Sommer 2010 durch den Sonnenblumenbogen diese Bühne betreten und wurden von Eurem Klassenlehrer in Empfang genommen. Dieser hat Euch viele Jahre als Klasse begleitet und seinen Teil zu Eurer tollen Klassengemeinschaft beigetragen. Eine lange Klassenlehrerzeit ist an der Waldorfschule grundsätzlich vorgesehen, leider aber nicht immer an der Tagesordnung.
Ihr alle werdet nachher die Bühne durch den Rosenbogen verlassen. Nicht alle von Euch verlassen die Schule. Viele haben sich dazu entschieden, hier das Abitur zu machen.
Es muss nicht jeder Schüler Abitur machen. Wer auf eine Waldorfschule geht, sollte aber, so wie Ihr, bis zur 12. Klasse auf der Schule bleiben. Wer vor der 12. Klasse die Waldorfschule verlässt, geht nach meinem Empfinden ohne Abschluss von der Schule. Die komplette Zeit an einer Waldorfschule zielt auf den Abschluss in der 12. Klasse. Diesen habt Ihr jetzt erreicht. Das ist ein Grund zur Freude.
Es geht in der Waldorfschule nicht um die Erfüllung der Schulpflicht oder um eine gute Note oder ein Zertifikat. Zertifikate und Testergebnisse von „wer weiß was“ sind zur Zeit nach meinem Geschmack ohnehin deutlich überbewertet. Die Waldorfschule begleitet Menschen in ihrer Entwicklung. „Erziehung zur Freiheit“ – das habt Ihr jahrelang genossen, vielleicht ohne das immer selbst zu merken. Wer von Euch schon einmal auf einer anderen Schule war wird vielleicht verstehen, was ich meine.
Welchen Wert die Waldorfpädagogik hat, durfte ich erst durch die Kindergarten- und Schulzeit meiner Kinder lernen. Ich bin dankbar dafür, dass ich die Waldorfpädagogik kennenlernen durfte. Ist es doch das, was ich an allen Schulen, auf die ich selber gegangen bin, immer gesucht und vermisst habe. Gut, dass man auch als Vater noch dazu in der Lage sein kann, durch die Schulzeit seiner Kinder etwas dazuzulernen.
Zur Waldorfpädagogik gibt es eine kleine Geschichte, an die ich mich gerne erinner.
Vor vielen Jahren kam einmal ein Mädchen im Kindergartenalter zu mir an den Schreibtisch. Ich hatte schon immer ein Homeoffice. Sie fragte mich, ob ich eine Schachtel hätte. Ich war mit meinen Gedanken woanders und hatte andere Prioritäten als eine Schachtel für ein kleines Mädchen aus dem Hut zu zaubern. Das sagte ich ihr in aller Liebe. „Das macht nichts, dann bau ich mir eben selber eine“, war ihre Antwort. Dieser Satz: „Dann bau ich mir eben selber eine“, bezeichnet aus meiner Sicht in aller Kürze den Kern der Waldorfpädagogik. Wissen ist vergänglich, man könnte sagen, „Wissen ist nur der gegenwärtige Stand des Irrtums“. Waldorfpädagogik vermittelt auch Wissen, Waldorfpädagogik vermittelt aber vor allem Kompetenzen. Ihr habt gelernt Euch selbst zu helfen und unabhängig von Anleitungen oder vorgefertigten Bausätzen zu agieren. Das wird Euch in der Welt da draußen helfen.
Zum Schluss habe ich noch ein ganz persönliches Anliegen. Wenn Du in der dritten Klasse schon dabei warst, kannst Du Dich sicherlich an das Bauprojekt bei uns auf dem Hof erinnern. Im Juni vor neun Jahren habt Ihr aus Holz, Steinen, Lehm, Sand, Stroh und Dachpfannen ein richtiges Haus gebaut. Das Haus sieht in einigen Details etwas aus wie von Drittklässlern gebaut. Das darf es auch, denn genau das ist es. Das Haus steht nach wie vor und ist sehr stabil. So stabil wie Euer Haus ist auch Eure Klassengemeinschaft, die Euch hoffentlich noch weitere Jahre tragen wird.
Euer Haus ist keine Bauruine sondern schmückt unseren Hof und hat einen richtigen Zweck. Wenn Du irgendwann in der Zukunft mal Lust hast, im Sommer eine Nacht in „Deinem“ Haus zu verbringen, ruf mich gerne an. Auch wenn es erst in 10 Jahren ist. Ich lade Dich, und gerne eine Begleitung, hiermit herzlich auf eine kostenlose Nacht im Heubett in Deinem Haus auf unserem Hof ein.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Ich wünsche allen Anwesenden einen schönen Sommer. Und wenn Euch mal etwas fehlen sollte, baut Ihr es Euch einfach selbst.